Meine Nacht mit Gorbatschow – oder: das erste Konzert in Peenemünde

Es gibt sie doch noch. Auch nachdem ich meinen gut dotierten Museumsdirektorenjob an den Nagel
gehängt habe, um wieder Kunst zu machen. Schlaflos. Diese Nächte, in denen der Schlaf nicht
kommen will, obwohl man es will. Obwohl man es so dringend will. Und natürlich weiß auch ich, dass
man genau sooo natürlich überhaupt gar nicht in den Schlaf findet. Loslassen. Loooslassen!
Es ist die erste Nacht, in der wir in einem so wunderbar langen Sommer die Fenster im Wasserschloss nachts wieder
geschlossen haben. Und auch die Innenklappläden. Keine Geräusche mehr vom leise vor sich
hinfließenden Wasser, keine Geräusche mehr von Ente und Teichhuhn. Zweifellos schlafen auch die
nicht durch, sondern melden sich tatsächlich gelegentlich auch nachts. Manchmal aufgeregt
schnatternd, manchmal nur mit einem leisen Klicken. So als ob sie ihrem Schlafnachbarn mitteilen
wollten, alles gut, ich bin noch da. Aber sie schlafen wenigstens. Zumindest mit einer Gehirnhälfte.
Selbst die Fische hört man gelegentlich bei geöffnetem Fenster. Nämlich dann, wenn sie aus dem
Wasser springen. Genauer gesagt, beim Wiederabtauchen. Welche Dramen sich da draußen wohl
unter Wasser in unserer Gräfte in einer solchen Spätsommernacht abspielen. Warum springen
schlaflose Fische? Warum auch immer. Heute höre ich zumindest auch sie nicht mehr.
Nur ein Käuzchen dringt noch zu mir durch.
Wie schön, dass ich mir nachts nicht mehr den Kopf mit den Themen eines großen Museums
zermartern muss. Mir geht dafür heute mal wieder das Projekt am Kriegerehrenmal nicht mehr aus
dem Kopf. Es ist die Nacht vom 30. auf 31. August – und der Ukraine-Krieg dauert nun schon 6
Monate. Im Januar hatte ich mich diesem Kriegerehrenmal hier in Drensteinfurt erstmals bewusst
angenähert und die ersten Fotos gemacht. Keine Ahnung warum. Eine eigenartige Anziehung. Im
Nachgang betrachtet der Beginn eines Kunstprojekts. Zur Erinnerungskultur unserer Stadt? Das wird
sich in der politischen Diskussion noch zeigen.
Eine eigenartig unangenehme Atmosphäre. Für eine kleine Stadt viel zu groß,
strenge Axialität, martialische Bildsprache. Im Gedenken für die toten deutschen Soldaten des 1.Weltkriegs
wurde es Ende Juni 1939, wenige Wochen vor dem Überfall auf Polen, eingeweiht.
Und heute haben wir wieder Krieg in Europa.
Unfassbar und bis vor wenigen Monaten auch für mich unvorstellbar. Wie mit einem solchen
Ehrenmal umgehen? Ausblenden geht spätestens jetzt nicht mehr. Eine erste Arbeit aus Beton,
Stahl und Fotografie habe ich dazu im Mai fertiggestellt [Link Blogbeitrag Die Eier des Adlers].

Und dieses Käuzchen scheint inzwischen direkt vor meinem Fenster zu sitzen. Seit der Antike gelten
diese nachtaktiven Eulen nicht nur als Boten der Weisheit, sondern vor allem auch als Ankündiger
des nahenden Todes. Und man hört sie zumindest vor unserem Schlossgemäuer hier nur selten.
Soviel zu den Unheimlichkeiten… So schlafe ich heute bestimmt nicht mehr.
Lediglich ein Mittel kann jetzt noch helfen: Radio an. Inzwischen ist es ein Uhr nachts und die
Nachrichtensprecherin eröffnet mit, „Am gestrigen Abend ist in einer Moskauer Klinik Michail
Gorbatschow verstorben.“ Und auch ich habe ihm viel zu verdanken.

Friedensnobelpreisträger, letzter Staatschef und Parteivorsitzender der Sowjetunion. Verrückt.
Letztens dachte ich noch an ihn. Er ist einer, der auch mir ganz neue Perspektiven eröffnet hat.
Im eigenen Land umstritten und für die Geschichte Deutschlands derjenige,
dem wir die Wiedervereinigung zu verdanken haben. Er war es,
der mit seiner Strategie von „Glasnost“ und „Perestrojka“, „Transparenz“ und „Umbau“,
in den wenigen Jahren seiner Regierungszeit nicht nur für sein eigenes Land
ein neues Denken für das Regieren und eine neue Gesellschaft proklamiert hatte, sondern mit
diesen für die Demokratie unerlässlichen Pfeilern auch den Umbau vieler Gesellschaften im Osten
Europas ermöglichte. Auch er natürlich kein „lupenreiner Demokrat“, aber ein überzeugter Visionär
für ein vereintes Europa. Und ein mutiger Mann bei der Umsetzung. Wäre er nicht gewesen, dann
wäre auch ich nicht auf der Insel Usedom gelandet. Und ich hätte nicht die Chancen bekommen, die
mir der Schritt in diese neue Welt eröffnete. Ein Schritt, den maßgeblich eben er auch mir geebnet hat.
Begegnet bin ich ihm als Direktor des Museums in Peenemünde. Es war der 28. September 2002.

Ein paar Jahre vorher stand ich noch in der weiten, ruinösen Turbinenhalle des Kraftwerks Peenemünde
und überlegte, was man hier alles so machen könnte. Klar, man kann bei einem Museum in Peenemünde
natürlich an einen Windkanal, Raketen und sonstige militärtechnische Großexponate denken, aber
das war nicht mein Weg. Mein Traum war, hier einmal das War Requiem von Benjamin Britten zu
hören. Jenes Stück, das Britten zur Wiedereinweihung der von deutschen Bomben zerstörten
Kathedrale von Coventry komponiert und 1962 dort uraufgeführt hatte. Für Peenemünde brauchte
es meines Erachtens 60 Jahre nach dem ersten erfolgreichen Start einer Rakete, auf die sich als
„Wunder-“ und „Vergeltungswaffe“ die Hoffnungen eines ganzen Volkes gerichtet hatte, nun ein
Zeichen mit neuer Symbolkraft. Nicht zuletzt, nachdem bereits 1992 eine anberaumte und letztlich
abgesagte 50 Jahr-(„Jubel-“) Feier anlässlich selbigen Raketenstarts als Geburtsstunde der Raumfahrt zu
einem internationalen Eklat geführt hatte. Dabei ging es nun nicht nur um mein neues und nach
internationaler Anerkennung strebendes Museum, sondern es war die Chance auf ein neuerliches
Symbol. Bestenfalls um eines, das wieder um die Welt gehen konnte. Ein Zeichen, das zeigen sollte,
dass dieser Ort und mit ihm das heutige Deutschland seine nationalsozialistische Geschichte inzwischen
anders rezipierte, als es die gescheiterte Absicht von 1992 noch vermuten ließ.
Was konnte besser dafür geeignet sein als genau dieses Konzert.
Der Aufwand war allerdings beachtlich. Und ich hatte, wie so oft das Glück, die richtigen
Unterstützer zur richtigen Zeit finden, die die Chancen und Tragweite eines solchen Konzerts
erkannten. Das reichte vom Intendanten des Deutschlandfunks und seiner Reihe „Grundton D“, über
die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern, den NDR-Intendanten Schneider, bis hin zum
Usedomer Musikfestival und seinem Intendanten Thomas Hummel. Schließlich musste nicht nur
diese riesige Turbinenhalle für diesen Anlass saniert und eine dem Ereignis angemessen hochkarätige
Besetzung gefunden werden, sondern das alles wollte auch finanziert sein…

Und jetzt war es soweit. 1.100 Besucher und 350 Musiker hatten oben in der Halle Platz genommen,
unter ihnen alle alliierten Botschafter und der damalige Bundespräsident Johannes Rau. Als „Hausherr“
wartete ich mit dem Ministerpräsidenten Ringstorff und meinem Bürgermeister sowie den Protokoll-
und Sicherheitsleuten am Eingang zum Kesselhaus. Gorbatschow war zuvor bereits, in Begleitung
seiner Tochter Irina, mit uns (und vielen anderen) beim abendlichen Festbankett gewesen. Insofern
„kannte man sich schon“. Ein kleiner, bescheidener Mann. Unscheinbarer Trenchcoat und Hut.
Beides noch abgeben und dann die große Stahltreppe hinauf. Wie in einer theatralen Aufführung
taucht diese kleine Gruppe zwischen der Orchesterbühne und dem vollbesetzten Zuschauerraum aus
dem Untergrund auf. Wohlwissend, dass der aufbrandende Applaus nicht mir galt, läuft mir noch
heute eine Gänsehaut über den Rücken. Ein Chor von „Gorbi“, „Gorbi“-Rufen wird zum allerersten
Staccato in diesem Konzertsaal. Alle haben sich von ihren Plätzen erhoben, um genau diesem kleinen
Mann ihre Ehre zu erweisen. Ich glaube, mir wurde erst in diesem Moment bewusst, was dieses von
mir erhoffte symbolische Zeichen eines solchen Konzerts in Peenemünde auch für die Menschen der
Region und für die Menschen, die die Revolution in der DDR herbeigesehnt hatten bedeutete. In
ihrem Fokus nun nicht die Geschichte Peenemündes, sondern der freundlich winkende Mann des
gegenwärtigen Abends, der dem alternden Honecker die Zeichen der Zeit gedeutet hatte und dem
sie schlicht die Freiheiten ihrer eigenen Gegenwart zu verdanken hatten.
Und ich eben zu einem ganz großen Teil mein Gestalten-Dürfen.

Es folgte ein atmosphärisch unübertroffener Konzertabend unter der Leitung von Mristislaw Rostropowitsch.
Auch er, der staatenlose, ehemalige Sowjet-Bürger wäre eine eigene Geschichte wert.
Sein Cello in meinem Büro. Bachs Cello-Suite als seine Konzentrationsübung…
Als der letzte Takt verklungen war – Innehalten. Rostropowitsch mit gekreuzten Armen vor der Brust,
den Rücken zum Publikum. Stille. Atemlos. Stillstand der Welt. Erst als der Dirigent die Arme sinken
lässt und sich langsam zu uns dreht brandet der Applaus los. Scheinbar unendlich.
Als die Redakteurin von Associatet Press auf mich zukommt, um mich zu befragen, kann ich nichts
mehr sagen. Was mir eigentlich nie passiert. Nur noch Tränen der Erleichterung.

Nach dem Konzert dann noch eine kleine Abschlussparty im 50er-Jahre Kantinensaal des Kraftwerks.
Als Gorbatschow sich verabschiedet, begleite ich ihn nach draußen und wir warten gemeinsam auf seinen Wagen.
Ich erzähle ihm von unserer Ausstellung und meiner nachmittäglichen Führung für den amerikanischen
Botschafter Daniel Coats und meinem versuchten Ausdruck der Sorge vor einem Krieg im Irak.
Zum Abschied geben wir uns die Hand und er legt dabei zusätzlich seine linke auf meinen Handrücken. Auch ein
Symbol. So ein Symbol des Bekräftigens und der Verbundenheit – wie es Männer gelegentlich machen
und ich es eigentlich nicht mag. Und er, dieser großartige, von mir unendlich bewunderte Mann, bedankt sich bei mir…
nicht nur höflich für einen netten Abend, sondern für die Idee zu diesem Konzert.
Dabei hätte es andersherum sein müssen.
Ab da konnte ich zum zweiten Mal an diesem Abend nichts mehr antworten.
Sorry, Mr. Gorbatschow, falls Sie mich da draußen irgendwo noch hören,
ich hätte mich bei Ihnen für noch so viel mehr bedanken wollen.
Gerne hätte ich heute mit ihm noch einmal geredet. Über die Zwei-plus-Vier-Gespräche und die
damals verhandelte Frage der Nato-Beitritte der ehemaligen Sowjet-Republiken.
Und eben über diesen Krieg in der Ukraine.

Zehn Jahre nach dem internationalen Eklat berichtete dann tatsächlich auch wieder die New York Times über Peenemünde
– diesmal allerdings mit den von mir erhofften positiven Konotationen und einem „grandiosen Konzert“.
Noch heute finden im Kraftwerk Peenemünde regelmäßig große und auch großartige Konzerte im
Rahmen des Usedomer Musikfestivals statt. Auch heute immer wieder ein Erlebnis – wenn auch nie
mehr ein so bedeutendes. Und auch das Nagelkreuz, das mir im Rahmen dieses Konzertes von einer
Delegation aus dem englischen Coventry überreicht wurde, ist heute noch zur Erinnerung an dieses
erste Konzert im Museum zu sehen. Schön, wenn was bleibt. Von Michail Gorbatschow auf jeden Fall.
Den Seewetterbericht um 6.40 Uhr habe ich dann nicht mehr gehört.

War Requiem in Peenemünde“; Trailer zum Film, Looks-Produktion, Rostock